Artikel von 30.7.2019

10 Fragen zum Brexit - Ein Interview

Unsere Nation bewohnt eine Insel und ist eine der Hauptnationen Europas; aber um diesen Rang zu behalten, müssen wir die Vorteile dieser Situation nutzen, die wir fast ein halbes Jahrhundert vernachlässigt haben: wir müssen immer daran denken, dass wir kein Teil des Kontinents sind, dürfen nie vergessen, dass wir Nachbarn sind.

Henry St. John, I. Viscount Bolingbroke , zur Verteidigung des 1713 geschlossenen Vertrags von Utrecht

 

Herr Kuny, Brexit-Hardliner Boris Johnson ist neuer britischer Premierminister. Jetzt haben wir den Salat, oder?

Naja, zumindest kommt jetzt wieder Bewegung in das Thema. Und alles was zur Klarheit und finalen Entscheidungen führt, sehe ich positiv. Nur dann kann es für alle mit dem Blick nach vorne wieder weiter gehen. 

 

Die EU sieht das mit Theresa May ausgehandelte Abkommen als einzige Möglichkeit für einen geregelten Brexit an. Johnson verlangt ein neues Abkommen. Und nun?

Aus meiner Sicht verlangt er dies zu Recht. Denn es ist für mich völlig unverständlich, dass man nahezu keinerlei Versuche gestartet hat, um Großbritannien in der EU zu halten bzw. ein vernünftiges Austrittsabkommen für alle Seiten zu vereinbaren. Der zumindest mittelfristige Schaden ist für beide Seiten ohne vernünftige Regelungen viel zu groß.

Verständlicherweise möchten die EU nicht zu viel nachgeben, um ein Exempel zu statuieren. Somit sollen natürlich Austrittsgedanken anderer Staaten bereits im Keim erstickt und verhindert werden.

Aber ist dies der richtige Weg? Ich persönlich denke, nein. Denn wenn man sich die Gründe der britischen Bevölkerung für den Austritt näher anschaut, so kann man diese Menschen sicherlich nicht nur einfach in eine nationalistische und rückwärtsgewandte Ecke schieben.

Ganz im Gegenteil. Denn was ich in all diesen Diskussionen vermisst habe, war eine Selbstreflexion über den gegenwärtigen „Gesundheitszustand“ der EU. Ich erinnere mich noch sehr gut an den Tag als das Ergebnis des Referendums bekannt gegeben wurde. Sicherlich war auch ich mehr als überrascht, dass die Mehrheit der britischen Bevölkerung sich tatsächlich für den Austritt aus der EU entschieden hatte.  Wie die meisten Menschen habe ich es nicht für möglich gehalten. Aber ich hatte auch sofort großen Respekt vor dieser mutigen Entscheidung. Und auch tief in mir drin spürte ich eine gewisse Bewunderung.

Zugegebenermaßen sah ich nun auch ein klares Zeichen an die politischen Eliten innerhalb der EU. Ein Einfaches „weiter so“ konnte es eigentlich nicht mehr geben. Zumindest haben dies auch alle führenden Politiker in den Tagen nach der Abstimmung so geäußert. Selbst Jean-Claude Juncker erstellte kurz danach ein fünf Thesenpapier, in welchem sogar erwähnt wurde, eventuell Hoheitsrechte wieder zurück an die Nationalstaaten zu übertragen. Genau darauf hatte ich eigentlich gehofft. Aber die Thesen sind wohl leider im Reißwolf gelandet.

Denn die immer größere und immer weniger nachvollziehbare Bürokratie aus Brüssel stößt mittlerweile einem großen Teil der Bürger in allen Mitgliedsländern auf. Leider dauerte diese kurze Selbstreflexion nicht sehr lange. Denn wie wir alle wissen, läuft es mit der EU genauso weiter wie früher. Wobei meiner Meinung nach, nach dem letzten Gezeter um den Posten des EU-Kommissionspräsidenten, wohl niemand mehr ernsthaft an demokratische Strukturen innerhalb dieser Gemeinschaft glauben kann.

Aber genau hier hätte man ansetzen müssen. Und nach dem Ergebnis des Referendums sich selber einfach stärker hinterfragen müssen. Denn dass die EU selbst massiven Reformbedarf hat, kann man wohl kaum noch leugnen. Die Briten hatten ja mit ihren Argumenten in sehr vielen Dingen ja einfach  auch Recht. Durch das Zeigen des Willens, Veränderungen tatsächlich herbeiführen zu wollen, hätte vielleicht auch der Brexit wirksam verhindert werden können. Stattdessen macht man mit seinen Allmachtfantasien weiter wie bisher, stellt sich auf stur und übt Druck aus. Und dies zum Nachteil der Bürger aller Mitgliedsländer.

Kurzum: Ich wünsche mir einfach mehr Demokratie ala´ Schweiz und viel weniger Brüssel.

 

Stichtag ist der 31. Oktober. Was denken Sie: Deal oder No Deal?

Die Hoffnung stirbt bekanntlich zu Letzt. Daher gehe ich noch von einem Deal aus. Aber die Wahrscheinlichkeit eines harten Brexit wächst - zumal die EU weder auf die bereits ausgehandelten 39 Mrd. Pfund an Schlusszahlungen noch auf den Irish-Backstop verzichten dürfte. Letzterer soll eine zolltechnische Zerschneidung der grünen Insel verhindern, käme aber letztlich einer zolltechnischen Abspaltung von Nordirland vom Rest des Vereinigten Königreichs gleich.

 

Denken Sie, die Mehrheit der britischen Bürger würden einen No-Deal-Brexit überhaupt akzeptieren?

Ich denke mittlerweile, ja. Denn das Gezerre geht nun schon so lange ohne dass die Verunsicherung geringer geworden ist. Nach meiner Beobachtung in den britischen Medien will die Mehrzahl der Bevölkerung nun einfach nur noch Klarheit haben. Egal mit welchem Ende.

Denn diese Verunsicherung durchzieht ja seit ein paar Jahren das ganze Land bzw. den Kontinent. Planbarkeit und Berechenbarkeit sind aber nun mal elementare Eckpfeiler und die Grundlage, um erfolgreich wirtschaften zu können. Es muss endlich wieder nach vorne gehen.

 

Der große Knackpunkt: die Grenze zwischen Irland und Nordirland. Ein Thema mit reichlich sozialem Zündstoff. Lohnt es sich für den Brexit tatsächlich den Frieden aufs Spiel zu setzen?

Hierzu fällt mir zuerst einmal das Zitat des römischen Staatsmanns, Marcus Tullius Cicero (106 - 43 v. Chr.) ein:

Der ungerechteste Friede ist immer noch besser als der gerechteste Krieg.

Es gibt natürlich absolut nichts wofür es sich lohnen würde, den Frieden aufs Spiel zu setzen.

Wie das ohne den Frieden zu gefährden gelöst werden soll ist mir gegenwärtig auch völlig unklar. Die Grenze zwischen Irland und Nordirland verläuft ja nicht nur auf Land, sondern auch auf der See.  

 

Kommt es zu einem harten EU-Austritt würde Großbritannien kein Teil des EU-Binnenmarkts mehr sein. Problematisch für alle Beteiligten, oder?

Definitiv ja. Und zwar nicht nur wie überwiegend dargestellt für Großbritannien. Denn rein ökonomisch betrachtet verabschiedet sich durch den Brexit die zweitgrößte Volkswirtschaft der Europäischen Union.

Großbritannien ist nicht nur einer der wenigen Nettozahler innerhalb der EU, sondern von seiner Wirtschaftskraft ungefähr so stark wie die 18 kleinsten Mitgliedsländer zusammen. Allein diese Tatsache zeigt auf, dass sich das Machtgefüge innerhalb der EU deutlich verschieben wird.

Und zwar deutlich in Richtung der Club-Med-Staaten (Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Griechenland). Aber gerade diese Länder haben seit Beginn der Finanzkrise im Jahre 2007/2008 massiv an Wirtschaftskraft verloren und diese nicht wieder erlangen können. Alleine in Italien sind über 25 % aller Produktionsarbeitsplätze vernichtet worden. Auch Frankreich ist aus dem Tal bis heute nicht mehr richtig rausgekommen.

Zudem ist das vereinigte Königreich für Deutschland der wichtigste Handelspartner innerhalb der EU. Insbesondere die wirtschaftlichen Nachteile für Deutschland sind bisher noch überhaupt nicht abzusehen.

Auch militärisch und geopolitisch wird der Brexit die verbleibenden EU-Staaten vor große Herausforderungen stellen. Man darf nicht vergessen, dass Großbritannien nicht nur Atommacht ist, sondern insgesamt über eine funktionierende und einsatzbereite Armee verfügt. Also Flugzeuge die vom Boden abheben, Schiffe die schwimmen und Gewehre die schießen können. Das sind gegenwärtig nicht unbedingt die Stärken der deutschen Bundeswehr. Gerade auch im Hinblick auf die Sicherung der Außengrenzen ist bzw. war UK ein äußerst wichtiger Partner.

Für Großbritannien wird entscheidend sein, wie zügig und umfangreich Wirtschaft- und Handelsabkommen mit anderen Nationen geschlossen werden können. Insbesondere den USA, China, aber auch den Common Wealth Staaten.

Natürlich muss die Wirtschaft auch zu Europa weiter tragfähig funktionieren. Aber hier keine vernünftige Einigung zu erzielen, können sich beide Seiten überhaupt nicht leisten. Hier wird es zu Zugeständnissen kommen müssen. EU als auch UK müssen aufeinander zugehen.

Auf längere Sicht bin ich mir allerdings nicht sicher, ob Großbritannien durch den Austritt wirtschaftlich wirklich schlechter fährt. Darauf würde ich nicht wetten.

 

Britische Finanzunternehmen zum Beispiel verlören die Zulassung, in der EU ihre Produkte zu vertreiben. Was würde das für die Versicherungsbranche bedeuten?

Natürlich können an dieser Stelle keine Pauschalaussagen getroffen werden, da nun mal jeder Versicherer dieses Problem auf seine Art und Weise angeht.

Aber da jetzt der ungeregelte EU-Ausstieg immer näher rückt und die von der Wirtschaft gefürchteten Szenarien unter Umständen eintreffen, steigen natürlich die Sorgen der Versicherer. Die Versicherer aus London fordern zumindest, dass sich Großbritannien und die EU in Sachen Äquivalenz einigen, sonst droht der Verlust der sogenannten Passporting-Rechte.

Aus für mich unerklärlichen Gründen, hat man in London teilweise zu lange gewartet und die negativen Konsequenzen ein Stück weit verdrängt. Nach dem Motto, so schlimm wird's schon nicht werden. Aber nun steigt die Nervosität. Dies trifft in erster Linie die regulatorische Äquivalenz im Bereich der Rückversicherung.

Zwar gibt es keinen Zweifel hinsichtlich der faktischen Äquivalenz der britischen Aufsicht, doch müsste eine solche auch in rechtlich bindender Weise vereinbart werden.

Aufgrund der sehr starken Abhängigkeit Großbritanniens von der Finanzindustrie muss die britische Regierung sehr zeitnah für Klarheit sorgen.

 

Einige Anbieter haben ihre Bestände bereits auf Gesellschaften in der EU übertragen. Bliebe so doch wieder alles beim Alten?

Grundsätzlich ja. Eine Veränderung wird es aber beim Insolvenzschutz von Lebensversicherungen geben. Gerade das Thema Insolvenzschutz wurde in den letzten Wochen und Monaten in der Fachpresse teilweise heftig diskutiert. Hierbei wurde viel Halbwissen als auch einige Unwahrheiten verbreitet. Hier sollte der Grund von falschen Behauptungen immer hinterfragt werden. Cui bono? Wem nützt es?

Beispielhaft sei hier Standard Life erwähnt. Aufgrund der Übertragung der Verträge nach Dublin gelten eben nun die irischen aufsichtsrechtlichen Vorschriften.

Selbstverständlich basieren diese auf EU-Richtlinien. Konkret heißt dies, dass für die Ansprüche der Kunden aus den Lebensversicherungsverträgen ein Sicherungsvermögen gebildet wird. Im Falle einer Insolvenz des Versicherers würden die Kunden vorrangig hieraus bedient werden.

Generell kann man sagen, dass die Übertragung der Verträge auf Gesellschaften außerhalb Großbritanniens unter strengsten Prüfungen und Auflagen erfolgt. Nicht nur die nationalen, sondern auch die europäische Aufsichtsbehörde prüft und begleitet solche Vorgänge äußerst intensiv.

 

Das neue Steuerbegleitgesetz regelt diesen Fall provisorisch. Für Lebensversicherungen zum Beispiel, die noch zehn oder 20 Jahre bestehen, sagt es allerdings nicht …

Bereits im Februar diesen Jahres hat der Deutsche Bundestag ein Gesetz beschlossen, nachdem die Fortsetzung der Verträge, welche deutsche Kunden mit britischen Versicherungsgesellschaften abgeschlossen haben, auch über den Termin des Brexits hinaus gewährleistet sind. Die Übergangsfrist hierfür ist allerdings mit 21 Monaten relativ kurz. Mit einem No-Deal würde aber Großbritannien zu einem Drittland ohne sog. Passporting-Rechte werden. D.h., britische Versicherer, die derzeit in Deutschland Verträge vertreiben und Kunden betreuen, dürfen dies für weitere 21 Monate fortführen. Bei noch laufenden Sach- und Gewerbepolicen dürfte dies kein Problem sein. Denn die Zeit würde den Maklern ausreichen, um für die Kunden andere Versicherer zu finden und die Risiken neu abzusichern.

Richtig ist es zwar, dass zu den Lebensversicherungen die noch 10 oder auch 20 Jahre weiterlaufen das Brexit-Steuerbegleitgesetz nichts sagt. Allerdings haben die Lebensversicherer wie Standard Life, Clerical Medical, Friends Provident usw. die Verträge der deutschen Kunden bereits auf Gesellschaften in einem anderen EU-Land übertragen. Somit gelten für diese auch weiterhin die Passporting-Rechte.

 

Angenommen ich habe einen britischen Versicherer. Wozu raten Sie mir jetzt?

Zuerst einmal besteht aus unserer Sicht kein Grund zur Panik. Die britischen Lebensversicherer haben sich mit dem Brexit schon seit längerer Zeit arrangiert bzw. in ihrer Planung auch eine längere Hängepartie und einem harten Brexit berücksichtigt.

Insbesondere die hier in Deutschland aktiven Gesellschaften, welche teilweise ihren Sitz in Großbritannien haben, haben nach unserer Einschätzung Vorkehrungen getroffen, damit in Bezug auf bestehende Verträge alles so geräuschlos wie möglich ablaufen wird.

Aber dennoch sollten Sie sich gerade bei langlaufenden Verträgen bei Ihrem Versicherer informieren.  Sofern Sach- und Gewerbeversicherungsverträge bestehen ist ein baldiges Handeln auf jeden Fall angebracht. Denn je nach Branche sind gewerbliche und industrielle Risiken nicht so leicht bei einem anderen Risikoträger zu versichern. Nehmen sie daher baldmöglichst Kontakt mit ihrem Berater auf, um noch ohne Zeitdruck Alternativen zu finden.

 

Der Brexit wirbelt die politische Kultur in Großbritannien komplett durcheinander. Wo es bislang nur zwei relevante Parteien gab, formieren sich jetzt neue Parteien und Koalitionen. Ist das Brexit-Chaos vielleicht auch eine Chance für die britische Gesellschaft und Politik seine Identität neu zu definieren? 

Ich glaube nicht, dass die britische Gesellschaft und Politik ihre Identität neu erfinden oder definieren muss. Denn ein Beweis für eine funktionierende Demokratie war für mich schon das Referendum, welches die Briten über den Verbleib in der EU abgehalten haben.

Auch die teilweise sehr hitzigen und lebhaften Debatten im britischen Parlament der letzten Monate zeugen für mich für wirkliches demokratisches Verhalten. Denn es fand ein echter Diskurs über den Brexit statt. Und zwar nicht nur in der Politik, sondern auch in den Medien und in der Bevölkerung.

Insbesondere wir in Deutschland sind das nur nicht mehr so gewohnt.

Außerdem, wenn man die letzten 1000 Jahre der sehr wechselhaften Geschichte betrachtet, dann gab es zwischen Briten und Europa sehr viele Konflikte, aber auch Kooperationen.

Der Drang nach Unabhängigkeit und Freiheit ist bei der britischen Bevölkerung traditionell sicherlich deutlich stärker verankert, als zum Beispiel in Deutschland dies der Fall ist. Wir sind es doch eher gewohnt uns unterzuordnen und mit einer gewissen Staatshörigkeit zu leben. Gerade in den letzten 10-20 Jahren werden aus meiner subjektiven Sicht viele Entscheidungen einfach hingenommen und nicht mehr hinterfragt. Gerade auf EU-Ebene.

Ich persönlich fühle mich dem britischen Denken und dem unabhängigen Geist deutlich näher.

Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.
-Benjamin Franklin, amerikanischer Politiker und Erfinder-

 

Deshalb bin ich der Meinung, dass nicht die Briten ihre Identität neu definieren müssen, sondern das restliche Europa bzw. genauer gesagt die Mitgliedsländer der Europäischen Union.